Verpflichtung zur Erteilung von Religionsunterricht
Die Verpflichtung zur Erteilung von Religionsunterricht im Jahr 1995 durch den Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen und der Landessynode im Jahr 1995 an Staatlichen Schulen im Freistaat Thüringen hatte quer durch die Thüringer Pfarrerschaft heftige Kritik ausgelöst. Bundesweit wurde darüber debattiert. Die Journalistin Frau Heike Schmoll greift dieses Debatte auf in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter der Überschrift: „Aufruhr unter Thüringens Pfarrern“
Ausgehend von der Verpflichtung beleuchtete Frau Schmoll nicht nur die Situation des Religionsunterrichts in Thüringen, sondern auch die Situation in den anderen Ost-Bundesländern. Thüringen spielte dabei eine Vorreiterrolle. Darüber hinaus schaut sie auch auf den Einsatz der Katecheten im Religionsunterricht. Diese haben für ihren Einsatz lediglich nur eine kirchliche Zusatzausbildung für das Fach Religionsunterricht erreichen können. Somit durften sie auch nur in der Grundschule und anfangs in der Sekundarstufe I unterrichten. Mit der Bewertung von Leistungen in diesem Fach wird diese Berufsgruppe der kirchlichen Mitarbeiter aufgrund der Ausbildung überfordert, so Frau Schmoll in ihrem Fazit.
Evangelischer Religionsunterricht im Freistaat Thüringen
1989 -2017
– Ein Protokoll –
Vorwort: Prof. Dr. Andrea Schulte, 1. Oktober 2017
„Im Jahre 2009 wurde am Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt das religions-pädagogische Projekt „Die Einführung des evangelischen Religionsunterrichts in Thüringen“ auf den Weg gebracht. Ziel des Projekts war es, die Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Thüringen von den Anfängen im Jahre 1991 bis zum Jahre 2016, seinem 25jährigen Bestehen, aus kirchlicher Sicht, d.h. aus Sicht der Evangelisch-Lutherischen Kirche und später der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland nachzuzeichnen und aufzuarbeiten. Von Beginn an hat die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland dieses Projekt durch die Abordnung von Pfarrer Johannes Ziegner an die Universität Erfurt unterstützt. In seiner Zeit als Pfarrer in Crock (1980-1994) sowie Schulreferent der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen (1994-2004) hat Ziegner die Weichen für den evangelischen Religionsunterricht in Thüringen maßgeblich mit gestellt.
Über die Jahre hinweg hat Ziegner die einschlägigen Archive aufgesucht, in denen die kirchlichen Dokumente aufbewahrt waren: das Landeskirchenarchiv der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (Eisenach), die Registratur der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (Erfurt). Ziegner hat in unermüdlicher und akribischer Detailarbeit das Quellenmaterial gesichtet, geprüft, geordnet und zusammengestellt: Protokolle der kirchlichen Gremien (Landeskirchenrat, Landessynode), Jahresberichte der Bildungseinrichtungen, Briefe, Gesprächsnotizen, Diskussionspapiere, Aktennotizen, Informationsmaterialien zum Religionsunterricht. Darüber hinaus hat er zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen geführt und nach deren heutigen Einschätzungen der Anfangsjahre des neuen Unterrichtsfachs Evangelische Religion gefragt. Darüber hinaus ist er bei seinen Recherchearbeiten auf weitere religionsdidaktisch aufschlussreiche Materialien gestoßen, deren Aufarbeitung religionspädagogisch dringend anzuraten wäre.
Das Ergebnis jahrelanger umfänglicher Archivarbeit, die mit übergroßem Engagement und zeitlichem Aufwand geleistet wurde, liegt nun in dieser knapp 700 Seiten umfassenden Dokumentation vor. Die zeitgeschichtlichen Quellen sind umsichtig zusammengetragen und nach Themen sortiert worden, die als konfliktträchtige und spannungsreiche Herausforderungen für das Werden und Wachsen des evangelischen Religionsunterrichts in Thüringen eine Rolle gespielt haben und teilweise noch spielen: Verordnung zur religionspädagogischen Arbeit, Gestellungsvertrag zum Religions-unterricht, Vokationsordnung der Landeskirche, das Amt der Schulbeauftragten, Mentoren und Multiplikatoren, Einsatz und Abschlüsse der kirchlichen Mitarbeiter, Konvente der Schulpfarrer und Schulkatecheten, das Pädagogisch-Theologische Zentrum bzw. Institut, Fachberater und Fachleiter, Lehrplankommissionen, Schulbuchfrage, Schulseelsorge.
Der Dokumentation haben wir den Titel „Aufruhr unter Thüringer Pfarrern“ – ein Protokoll gegeben. Das Zitat ist die Überschrift eines Artikels von Heike Schmoll in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Juli 1995. Sie bezieht sich darin auf die Religionsunterrichtsverordnung vom 16. Mai 1995, wonach Pfarrer und Pastorinnen zur Erteilung des schulischen Religionsunterrichts verpflichtet wurden. Mit dem Begriff „Protokoll“ wird angezeigt, dass die Quellen zu den einzelnen Themen chronologisch entsprechend der Ereignisse aneinandergereiht sind und für sich sprechen. So finden sich auch Kommentare, mit denen Ziegner durch sein Wissen als Zeitzeuge und unmittelbar Beteiligter die Quellen ergänzt hat. Dass er während seiner Zeit als Pfarrer in Crock und Schulreferent der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen die Einführung des evangelischen Religionsunterrichts „hautnah“ miterlebt hat, ist wichtig zu erwähnen. In solchen kommentierenden Passagen zeigt sich deutlich die Herausforderung, der er sich zu stellen hatte, nämlich Nähe und Distanz zu seinem Untersuchungsgegenstand in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, d.h. einerseits gegenüber dem Material die gebotene Distanz walten zu lassen, andererseits die eigene Beteiligung als aktiv mitwirkender Zeitzeuge behutsam und umsichtig sichtbar zu machen und nicht zu leugnen.
Die Dokumentation zur Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Thüringen ist ein eindrückliches und beredtes Zeugnis über die Neubestimmung religiöser Bildungsarbeit in kirchlicher Verantwortung. 1991 trifft die Thüringer Landeskirche nach heftigem Für und Wider die Entscheidung für die sofortige Einführung des schulischen Religionsunterrichts im Freistaat. Im Frühjahr 1990 hatte man noch die Vorstellung eines „Gemeinsamen Grundwerteunterrichts“. Aber das Schuljahr 1991/92 führte letztlich zu den gleichberechtigten Fächern „Ethik“ und „Religionsunterricht“. Thüringen war somit das erste der jungen Bundesländer, das diese Fächer an den Schulen als ordentliche Lehrfächer institutionalisierte.
Am 1. September 1991 wurde dort, wo es sachlich und personell möglich war, mit der Einführung des Religionsunterrichts begonnen, nämlich in 15 von 40 Super-intendenturen. Die evangelische Landeskirche stand nun vor der gewichtigen Aufgabe, in enger Zusammenarbeit mit dem Thüringer Kultusministerium und dem Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien, den Religionsunterricht zu gestalten: Der Einsatz der kirchlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Religionsunterricht musste vertraglich geregelt werden. Zeitgleich waren kirchliche Mitarbeiter und staatliche Lehrkräfte fortzubilden. Lehrplankommissionen wurden ins Leben gerufen.
Im Falle des Religionsunterrichts als einer res mixta von Staat und Kirche hatte sich die Landeskirche immer wieder vor Augen zu führen, dass sie nun an dieser Aufgabe zu beteiligen war. Sie betrat damit auch kein vollends neues oder fremdes Terrain. Kirche in der DDR hatte immer schon Bildungsarbeit in den Gemeinden betrieben (z.B. durch Christenlehre, Konfirmandenarbeit). Sie konnte somit durchaus wertvolle Bildungs-erfahrungen einbringen. Aber mit der Einführung des schulischen Religionsunterrichts stand die Kirche vor der neuen Aufgabe und gewaltigen Herausforderung, mit dem Staat zu kooperieren und eine Beziehung aufzubauen, die ehemals zumeist von Abgrenzung und Ablehnung bestimmt war. 40 Jahre war Kirche nicht in die Bildungsaufgaben der Gesellschaft, mithin auch nicht der Schule integriert. Hier war Neuland zu betreten und mit Sensibilität, Wissen, Knowhow zu kultivieren, das man sich erst mühsam aneignen und aufbauen musste. In 40 Jahren „Religionspolitik“ der DDR war Kirche „angeraten“, sich ihrer protestantischen Bildungsgeschichte und der gesellschaftlichen Verantwortung protestantischer Bildung zu entledigen. Die Unterlagen, die Ziegner einsehen und auswerten konnte, dokumentieren eindrücklich die Brisanz des Anliegens und die damit verbundenen Risiken, gesellschaftliche Bildungsmitverantwortung zu artikulieren und profilieren, und den gewaltigen Kraftakt, mit den damit einhergehenden hochexplosiven Zündstoff umzugehen. Hier hatte sich eine Landeskirche in einen Klärungsprozess darüber zu begeben, was sie vor dem Hintergrund der neuen politischen Vorzeichen unter Bildungsmitverantwortung verstehen wollte und wie sie Bildungsmitverantwortung zu gestalten beabsichtigte. In der Rückschau lässt sich sagen, dass es in diesem Prozess viele Vorbehalte, Irritationen, Kränkungen und Verletzungen sowohl innerkirchlich als auch in der Beziehung zum Land gegeben hat. Schulischer Religionsunterricht war in den Anfangsjahren seiner Einführung und lange darüber hinaus ein risikoreiches Unterfangen.
Mittlerweile sind 25 Jahre seit der Einführung des Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen Thüringens vergangen. Das Fach hat längst die Volljährigkeit und ein mittleres Erwachsenenalter erreicht, in dem man eine gewisse „Sesshaftigkeit“, kurz: den „Erwachsenenstatus“ mit allen Rechten und Pflichten sowie Ansprüchen und Erwartungen hätte annehmen können. Nämlich: Mit dem Recht, als gleichberechtigtes Unterrichtsfach behandelt zu werden, der Pflicht, an der öffentlichen Schule religiöse Bildung als Teil der allgemeinen Bildung zu vertreten, dem Anspruch, am Bildungsauftrag der Schule emanzipatorisch teilzuhaben sowie last but not least der Erwartung, vollends akzeptiert und angemessen gefördert zu werden.
Allerdings erleben Thüringen wie auch Sachsen-Anhalt in ihren Schulsystemen derzeit einen deutlichen Wandel (Gemeinschaftsschulen, gemeinsamer Unterricht, Bildungspläne, neue Lehrplangeneration). Der Religionsunterricht, so mehren sich die Indizien, ist in diesem Prozess nicht umgebaut, sondern abgebaut worden. Noch beruhigt der Blick auf die öffentlich einsehbaren Statistiken der Unterrichtsversorgung mit scheinbar stabilen Zahlen. Dennoch ist jetzt immer noch oder gerade wieder die Zeit, an nachhaltigen Entwicklungen zu arbeiten und den Religionsunterricht in der Öffentlichkeit und Gesellschaft (geistes-)gegenwärtig zu sein. Angesichts der gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen sowie der brennenden Fragen nach gesellschaftlichem Zusammenhalt in einer hochgradig (funktional) differenzierten Gesellschaft hat der Religionsunterricht mehr denn je die Aufgabe, der Artikulations-kraft religiöser Bildung in der Öffentlichkeit (d.h. am öffentlichen Ort der Schule) Ausdruck zu verschaffen.
Vor diesem Hintergrund sei die Erwartung ausgesprochen, das hier vorgelegte Protokoll über den evangelischen Religionsunterricht in Thüringen von seinen Anfängen bis heute für eine umfassende Darstellung religiöser Bildungsarbeit auf staatlicher und kirchlicher Ebene heranzuziehen bzw. für weitere religionspädagogische Forschungszwecke zu nutzen. Pfarrer Johannes Ziegner gebührt der große Dank, durch seine unermüdliche Arbeit diese viel versprechenden neuen Wege geebnet zu haben.
Durch ihre großzügige Unterstützung hat die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland wesentlich zu Realisierung des Projekts beigetragen. Dafür sei ihr herzlich gedankt.“
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Die Dokumentation
„Aufruhr unter Thüringens Pfarrern“ – Ein Protokoll –
ist im
LANDESKIRCHENARCHIV EISENACH
ARCHIV DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN MITTELDEUTSCHLAND
einsehbar.
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Das oben genannte Arbeitsbuch wurde für einen Druck durch die Kirchenleitung nicht freigegeben. Es wird – hoffentlich – im Archiv der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland aufbewahrt.