15 Jahre RU im Freistaat Thüringen

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15 Jahre Evangelischer Religionsunterricht im Freistaat Thüringen
1991 – 2006

„Evangelischer Reli – Ich glaub, hier bin ich richtig!
Mit Öffnung der Deutschen Demokratischen Republik im November 1989 eröffnet sich auch in Thüringen überraschend wieder die Möglichkeit, Evangelischen Religionsunterricht in Staatlichen Schulen zu erteilen. In der „Juri-Gagarin-Oberschule“ Crock sperrte sich der ehemalige Grenzoffizier und spätere Schulleiter bis 1990 gegen den Evangelischen Religionsunterricht. Ab September 1991 kann ich dann als Ortspfarrer an der Staatlichen Grund- und Regelschule insgesamt 12 Wochenstunden Evangelischen Religionsunterricht erteilen – neben der Verwaltung eines volkskirchlichen Pfarramtes, einer  Multiplikatorenausbildung, einer religionspädagogischen Fortbildung und der Zurüstung von  bis zu 75 staatlichen Lehrkräften sowie 20 Pfarrern und Pastorinnen auf ihren religionspädagogischen Abschluss hin. Intensive Gespräche, klare Nachfragen und das Dankbarsein für diese Fortbildungen sind meine wichtigsten Erfahrungen aus jener Zeit.

Im Februar 1994 rief mich der damalige Dezernent für Zeugnis und Dienst im Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen nachts an und fragte, ob ich nicht Referent für Religionsunterricht und Evangelische Schulen im Landeskirchenamt in Eisenach werden wolle. Ich sagte zu, nicht ahnend, dass wir in den Anfangsjahren immer wieder nachts alle wichtigen Entscheidungen und Entwicklungen gemeinsam vorbereiten würden. Zum Glück wurde für dieses Vorhaben im gleichen Jahr die Juristin Frau Liane Engelbrecht im Landeskirchenamt eingestellt. Mit ihr zusammen haben wir den Aufbau des Evangelischen Religionsunterrichts und dessen Etablierung entscheidend voran gebracht.

Schon gleich nach der Wende 1989/1990 erbrachten  221 Pfarrer und Pastorinnen und 98 kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in staatlichen Schulen jährlich 73.000 Religionsunterrichtstunden. Sie alle hatten diese einmalige Chance für sich angenommen und umgesetzt. Doch dieser Zustand benötigte eine Ordnung sowohl für die staatliche als auch kirchliche Seite. Die nach einem langen innerkirchlichen Abstimmungsprozess entstandene Verordnung für die Erteilung von Religionsunterricht durch Pfarrer und Pastorinnen im Gemeindepfarramt war von der Landessynode Satz für Satz abgestimmt worden. Einige der damals dagegen stimmenden Synodalen sind heute selbst im Bildungsbereich tätig.

Schon im Vorfeld dieser Verordnung ist zwischen dem Freistaat Thüringen und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen im Jahr 1994 ein Gestellungsvertrag für den Einsatz kirchlicher Lehrkräfte im Evangelischen Religionsunterricht im öffentlichen Schulwesen vereinbart wurden. Trotz Ringens um den Aufbau des Evangelischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen wegen sich stetig verschlechternder staatlicher Haushaltslage, sinkender Schülerzahlen und schwieriger Gewinnung geeigneter Lehrkräfte besuchen noch heute ca. 60.000 Schüler und Schülerinnen den Evangelischen Religionsunterricht. Das sind 22,8% aller staatlichen Schüler und Schülerinnen Schuljahr für Schuljahr. Ein Drittel dieser Schülerschaft ist nicht getauft.

Parallel zum Aufbau des Religionsunterrichts entwickelte sich das Pädagogisch Theologische Zentrum zuerst in Reinhardsbrunn, anschließend in Eisenach und zuletzt in Neudietendorf / Drübeck. Es etablierte sich zum Zentrum für Religionslehrerfortbildungen und religionspädagogische Zentralveranstaltungen. Anfangs bildete es unter anderem 42 Multiplikatoren für den Religionsunterricht aus. 1995 kristallisierten sich aus diesem Kreis acht Schulbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen für die Organisation des Religionsunterrichts „vor Ort“ heraus. 2001 konnte diese Aufgabe von vier Schulbeauftragten übernommen werden.

In Bereichen mit einem hohen Bedarf an Evangelischem Religionsunterricht konnten Schulpfarrer und Schulpastorinnen installiert werden. Viele Schulleiter hat es gefreut, jetzt eine verlässliche, erreichbare Person im Religionsunterricht „vor Ort“ zu haben.
Zehn mühsame Jahre wurden für den Prozess der Installation des Evangelischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen im Freistaat Thüringen benötigt.  Oft ging der Blick auf das Gesamtwerk verloren. Eigene Wünsche und Vorstellungen, die Überschätzung der eigenen Kräfte, aber auch die Finanzlage des Freistaates Thüringen blockierten stellenweise die Arbeit. Das Schulreferat zusammen mit der Juristin hat getan was möglich war. Es gab unendlich viele Gespräche, Protokollerklärungen und am Ende kam oftmals nicht das Ergebnis zustande, was sich alle erhofft hatten. Allein die regelmäßig wiederkehrende Verwaltungsvorschrift für die Schuljahresorganisation band alle Kräfte um eine für alle Beteiligte befriedigende Regelung zu finden. Im Nachhinein stelle ich fest, dass die große Chance, Evangelischen Religionsunterricht in der öffentlichen Schule durch kirchliche Lehrkräfte erteilen zu können, von den Verantwortlichen nicht umfassend auch als Missionsauftrag erkannt worden ist.

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen hat ca. 600 staatliche Lehrkräfte für die Erteilung von Evangelischem Religionsunterricht für die Unterrichtung von jährlich 60.000 Schülern und Schülerinnen ausgebildet. Diese staatlichen Lehrkräfte drängen jedoch mit der zunehmend sich verschlechternden demografischen Entwicklung der Schülerzahlen immer mehr kirchliche Lehrkräfte aus dem Religionsunterricht heraus. Das Erfordernis, im Gegenzug die kirchlichen Lehrkräfte inhaltlich und pädagogisch fortzubilden, ist zu spät erkannt worden. Mancherorts wollten  Ethiklehrer evangelische Schüler und Schülerinnen im Fach Ethik  mit unterrichten. Aus ihrer Sicht wäre dann die Erteilung von Religionsunterricht überflüssig geworden. Staatliche Seminararbeiten wurden von fachfremden Lehrern zum Thema: „Kreuz, Halbmond und Menora“ gestaltet und öffentlich verteidigt.

Die religionspädagogische Ausbildung, die im heutigen Pädagogisch-Theologischen Institut am Standort Drübeck angeboten wird, erkennt der Freistaat Thüringen nicht an. Kennzeichnend für das Arbeitsfeld „Evangelischen Religionsunterricht“ ist es, dass oft  viele Menschen ohne Hintergrundwissen „hineinagieren“. Das macht die Arbeit oftmals schwerer als sie schon ist.

2001 konnten wir zehn Jahre Religionsunterricht zusammen mit der katholischen Kirche in der Messehalle in Erfurt feiern. Ca. 500 kirchliche und staatliche Lehrkräfte erlebten einen ökumenischen Gottesdienst und sehr gute Eingangsreferate durch Prof. Dr. Karl Ernst Nipkow, Tübingen und Prof. Dr. Andreas Wollbold, Erfurt.

Rückblickend können wir zusammen mit Frau Engelbrecht und allen Mitstreitern für den Evangelischen Religionsunterricht im Freistaat Thüringen für diese einmalige Chance Gott danken. Inzwischen befassen sich auch Kreissynoden mit dem Evangelischen Religionsunterricht. Dieser Religionsunterricht ist neben der traditionellen Kinder- und Jugendarbeit in der Evangelisch-Lutherischen Kirche ein Geschenk der Wende, das nicht hoch genug gewürdigt werden  kann. Wo sonst bekommt unsere Kirche noch Woche für Woche 60.000 Schüler zum Austausch über Fragen des Glaubens, über das Erleben von Gemeinschaft sowie über die Grundfragen der Menschheit und des Christentums zu Gesicht?

Zum 15. Geburtstag des Evangelischen Religionsunterrichts im Freistaat Thüringen seit der Wende bleibt nur zu wünschen, dass die Verantwortlichen der Kirche erkennen, welcher Schatz ihnen da in den Schoß gelegt worden ist. Statt Jammer über abnehmende Schülerzahlen und schwindende Gemeindegliederzahlen sollte Gott für das Interesse der vielen Schüler und Schülerinnen am Evangelischen Religionsunterricht gelobt werden. In einer Schulandacht sitzen oft mehr Schüler und Schülerinnen als in Gottesdiensten in einer Kirchgemeinde im ganzen Jahr zu zählen sind.“

Pfarrer Johannes Ziegner
Schulreferent 1994-2004
Landeskirchenamt Eisenach