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2001, 10.05.
Geleitwort für das Thillm-Heft
„Die Übernahme des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland am 03.Oktober 1990 durch die jungen Bundesländer bedeutete auch für den Freistaat Thüringen die Verpflichtung zur Einrichtung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen. Nach 40 Jahren SED-Diktatur löste dies zunächst Ablehnung und Verwirrung aus. Es fehlten Lehrkräfte für den Religionsunterricht. Bis 1989 war es den Kirchen verwehrt, außerhalb der kirchlichen Räume Bildungsverantwortung zu übernehmen. Nun, quasi über Nacht, stand die Frage im Raum: „Ist die Schule der richtige Ort zur Behandlung von Grundfragen des Lebens – am Religionsunterricht wird doch ohnehin nur ein geringer Teil der Schüler teilnehmen?!“
1991 beschloß dann der Thüringer Landtag, dass Religionsunterricht im Freistaat Thüringen ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen sein soll – nicht am Religionsunterricht teilnehmende Schüler müssen am Ethikunterricht teilnehmen. Die Weichen waren nun gestellt und die Kirchen standen nun vor der Aufgabe, in enger Zusammenarbeit mit dem Thüringer Kultusministerium und dem Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien den Religionsunterricht zu gestalten. Lehrplankommissionen wurden gebildet, staatliche und kirchliche Lehrkräfte gemeinsam ausgebildet.
Heute besuchen ca. 30 % aller thüringer Schüler den evangelischen oder katholischen Religionsunterricht. 2000 staatliche und kirchliche Lehrkräfte haben nach ihrer Ausbildung mit der Vocatio oder der Missio canonica eine kirchliche Bevollmächtigung zur Erteilung von Religionsunterricht erhalten. Dass sich ein bisher unbekanntes Unterrichtsfach nicht immer reibungslos in den Schulbetrieb eingliedern läßt, war allen Beteiligten nur zu deutlich. Offene Gespräche, beharrliche Verhandlungen und kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Kirchen führten dazu, dass zunehmend von Jahr zu Jahr der Religionsunterricht in den Schulalltag eingebunden werden konnte. Mit viel Einfühlungsvermögen ist dieses neue Unterrichtsfach Schülern, Eltern und Lehrern vertraut gemacht worden. Ungeachtet mancher Probleme heißt es inzwischen: „Wir wollen Religionsunterricht an unseren Schulen, er bietet eine Chance für uns und unsere Gesellschaft!“
Ganz selbstverständlich ergänzen und bestärken sich heute staatliche und kirchliche Lehrkräfte in Fragen der Unterrichtsmethodik, Didaktik und der Auseinandersetzung mit Unterrichtsinhalten. Kirchliche Mitarbeiter haben in den Schulalltag hineingefunden. Manche konzeptionelle Überlegung braucht für ihre Reifung noch Zeit. Die in den alten Bundesländern begonnene religionspädagogische Diskussion der letzten 30 Jahre ist weder in den alten Bundesländern noch in den jungen Bundesländern ausdiskutiert.
Seit 10 Jahren wird nun in thüringer Schulen Religionsunterricht erteilt. Die Zahl der Religionsschüler ist trotz sinkender Schülerzahlen bis heute in Thüringen konstant geblieben. Dass ein Drittel der Schüler im Religionsunterricht nicht getauft ist, vermag noch immer die Kirchen zu verwundern.
10 Jahre Religionsunterricht im Freistaat Thüringen sind ein Anlaß für eine Rückbesinnung, aber auch für einen Blick in die Zukunft. „Religionsunterricht – Chance für die Gesellschaft“ ist das Thema des Religionslehrertages 2001 gewesen. Zukunftsweisende Referate und zahlreiche Grußworte der Vertreter aus Forschung und Lehre, des Freistaates Thüringen und der Kirchen vermochten dieses Anliegen deutlich zu präzisieren. Alte und neue Anfragen wurden aufgeworfen. Eine Ausstellung des Pädagogisch Theologischen Zentrums der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen dokumentierte Vergangenes, Entwicklungen und Meinungen in unserer Gesellschaft zum Thema Religionsunterricht.
Dieses Materialheft faßt die Geschehnisse am Religionslehrertag 2001 zusammen. Es gibt Gelegenheit zum Nachlesen und Nachdenken darüber, wie die Thesen und Fragen zum Religionsunterricht mit Schülern, Eltern und Lehrern weiterhin diskutiert werden können.
Menschen bleibt es in Zeiten zunehmender Globalisierung nicht erspart, sich mit Religionen, Weltanschauungen, Werten und Gesellschaftssystemen vertraut zu machen. Nur dies bietet eine Voraussetzung für Toleranz in der Begegnung mit anderen Menschen und anderen Völkern. Der Religionsunterricht bietet Raum für die Benennung und Thematisierung von Ängsten und Unsicherheiten, denen heute verstärkt auch Kinder und Jugendliche durch Medienpräsenz ausgesetzt sind.
Allen, die sich für den Aufbau und die Weiterentwicklung des Religionsunterrichts in den Schulen im Freistaat Thüringen eingesetzt haben und immer noch engagieren, möchten wir auf das Herzlichste danken.
Bad Berka, im Advent 2001″
Pfarrer Johannes Ziegner
Schulreferent im Landeskirchenamt
der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen
Bernd Schreier,
Direktor des Thüringer
Instituts für Lehrerfortbildung,
Lehrplanentwicklung und Medien
Dr. Martin Fahnroth,
Leiter der Schulabteilung
des Bischöflichen Ordinariats des Bistums Erfurt