Im Rückspiegel – 1991
______________________________________________________________
„…Es trug sich zu, daß ein 14jähriger einst nicht an der Jugendweihe teilnehmen wollte. Worauf die Lehrerin anhob zu mehr als einer überzeugenden Rede, deren Tenor die Frage war, wie man überhaupt in unserem sozialistischen Arbeiter–und–Bauern Staat ohne Jugendweihe leben könne. Die Zeiten haben sich geändert, die Machtverhältnisse
gewendet. Die Lehrerin ist heute Schulamtsleiterin. Die Schwester des Jugendweihe–Verweigerers von einst ist heute 14. Und wollte nicht an der Konfirmation teilnehmen. Und kann nicht verstehen, wie die einstige Klassenleiterin und heutige Schulamtsleiterin heute Reden hält, deren Tenor die Frage ist, wie man überhaupt in unserem bürgerlich–demokratischen Rechtsstaat ohne Konfirmation leben könne. Zugegeben, eine Episode nur, und in unserem Landkreis hat sie sich auch nicht zugetragen.
Bezeichnend aber ist sie allemal für Metamorphosen, die in den zurückliegenden anderthalb Jahren nicht nur das Bildungswesen durchlebt hat. Solch ein drastisches Beispiel veranschaulicht dann auch die Kontroverse des Denkens über Schulpolitik in der DDR, wie sie am Montag in der Crocker St–Veits–Kirche offen zum Ausbruch gekommen ist. Für den Außenstehenden überraschend, für Einheimische wohl nicht ganz so unvermittelt, weil schon auf der Versammlung, die den Elternvertreter im Überprüfungsausschuss bestimmte, heftig gestritten worden war.
Dabei hatte es doch eine ganz beschauliche und harmlose Festwoche werden sollen. Der Anlaß, das 400jährige Schuljubiläum im Ort, aber versprach von vornherein kontroverse Debatten. Debatten, die für gewöhnlich hinter vorgehaltener Hand geführt werden. Daß es in Crock nicht so gekommen ist, ist das Verdienst von Pfarrer Ziegner, wie immer man über seine harsche Kritik an der Lehrerschaft auch denken mag. Auch ob die montägliche Festveranstaltung nun unbedingt der geeignete Ort war, der Kontroverse Öffentlichkeit zu verleihen, sei dahingestellt.
Fest steht jedenfalls, daß der nicht unumstrittene Pfarrer mit seiner in Klartext gehaltenen Gegenrede zur Festansprache von Schuldirektor Werner Bandekow ÖI ins Feuer gegossen und damit eine Diskussion neu entfacht hat, die unter den Fragebogen–Peinlichkeiten schon fast erstickt war. Und wenn, wie auch mir gelehrt worden ist, Widersprüche wirklich die Triebkräfte von Entwicklung sind, dann kann die Crocker Kontroverse doch so schlecht nicht gewesen sein. Hüten allerdings sollte man sich vor Pauschalisierungen und Allgemeinplätzen.
Pfarrer Ziegner wußte nicht zuletzt aus eigenem, bitteren Erleben, worüber er sprach. Der Bundestagsabgeordnete Kriedner wußte es offenbar nicht. Denn: Nicht jeder, der in der DDR Pädagoge war, ist ein Verbrecher. Es gab gewiß „200prozentige“ Lehrer, es gab aber auch welche, die sich humanistischen Idealen verschrieben hatten, auf der Seite der ihnen Anvertrauten standen. Just, als Karl–Otto Saenger den Hildburghäuser Gymnasialchor zum Abschluß der Crocker Festveranstaltung zu musikalischer Spitzenleistung dirigierte, fiel es mir wieder ein. Er war vier Jahre mein Lehrer gewesen...“.